Abstract
Technische Systeme zur Vogeldetektion und daran gekoppelte, bedarfsgerechte Abschaltungen (Antikollisionssysteme), stellen eine aktuell vielfach diskutierte Möglichkeit dar, um ein signifikant erhöhtes Tötungsrisiko kollisionsgefährdeter Arten zu vermeiden. Gemäß Abschnitt 2 der Anlage 1 zu § 45b Absatz 1-5 BNatSchG ist jedoch bislang nur ein System (IdentiFlight) und auch nur für eine Art (Rotmilan) als Schutzmaßnahme artenschutzrechtlich anerkannt. Grundlage für diese Anerkennung war eine umfangreiche und methodisch standardisierte Wirksamkeitsuntersuchung über drei Jahre an sechs Standorten (REICHENBACH et al. 2021). Im Anschluss hieran und mit derselben methodischen Herangehensweise wurde 2021 eine Untersuchung zur Wirksamkeit von IdentiFlight in Bezug auf den Seeadler an vier Standorten durchgeführt. Der vorliegende Bericht stellt die Ergebnisse dieser weiteren Systemerprobung vor und bewertet sie gemäß den artenschutzrechtlichen Anforderungen.
rGemäß Abschnitt 2 der Anlage 1 zu § 45b Absatz 1-5 BNatSchG sind derzeit für den Seeadler nur zwei Schutzmaßnahmen fachlich anerkannt:
- Kleinräumige Standortwahl,
- Phänologiebedingte Abschaltung.
Die Liste der genannten Schutzmaßnahmen ist gemäß BT-Drucksache 20/2354, S. 32 allerdings nicht abschließend. So heißt es in Abschnitt 2 der Anlage 1 zur Wirksamkeit von Antikollisionssystemen als anerkannte Schutzmaßnahme: Grundsätzlich erscheint es möglich, die Anwendung von Antikollisionssystemen zukünftig auch für weitere kollisionsgefährdete Großvögel, wie Seeadler, Fischadler, Schreiadler, Schwarzmilan und Weißstorch, einzusetzen. Die vorliegende Untersuchung soll demgemäß prüfen, ob das Antikollisionssystem IdentiFlight zukünftig als nachgewiesenermaßen wirksame Schutzmaßnahme auch für den Seeadler eingesetzt werden kann.
IdentiFlight (IDF) wurde in den USA zum Schutz von Adlern vor Kollisionen an Windenergieanlagen (WEA) entwickelt und zeigte für die Zielarten Steinadler und Weißkopfseeadler hohe Erfassungs- und Klassifizierungsraten sowie eine effektive Reduzierung von Kollisionsopfern um > 80 % (MCCLURE et al. 2018; MCCLURE et al. 2021). IDF besteht aus acht Weitwinkelkameras für die Detektion von Flugobjekten und einer beweglichen Stereokamera, welche eine Zielart beim Anflug auf eine WEA erkennt und bei Unterschreiten eines kritischen Abstandes ein Abschaltsignal sendet (d.h. die WEA in den Trudelbetrieb bringt). Erst wenn der Vogel diesen kritischen Abstand wieder verlassen hat, wird die Anlage nach Einhaltung einer gewissen Sicherheitszeitspanne wieder in Betrieb gesetzt. Die Zielartenerkennung ist sehr spezifisch und soll sowohl die Falsch-Negativ-Rate (Zielart irrtümlich als Nicht-Zielart bestimmt mit der Folge unterlassener Abschaltung) als auch die Falsch-Positiv-Rate (Nicht-Zielart als Zielart bestimmt mit der Folge unnötiger Abschaltung) möglichst niedrig halten. Die Klassifizierung eines detektierten Flugobjekts basiert auf einem neuronalen Netz.
Das verwendete Untersuchungskonzept folgt den Vorgaben von KNE (2019) und entspricht der Vorgehensweise in REICHENBACH et al. (2021). Die Erprobung erfolgte dementsprechend nach folgenden Kriterien:
- Räumliche und zeitliche Abdeckung
- Erfassungsreichweite
- Erfassungsrate
- Klassifizierungsrate
- Wirksamkeit und Effizienz der Abschaltung
Zusätzlich wurden in der vorliegenden Studie auch Parameter des Flugverhaltens – Fluggeschwindigkeit (horizontal und vertikal) sowie Flughöhe – des Seeadlers analysiert. Die Untersuchung wurde 2021 an vier Windparkstandorten in Mecklenburg-Vorpommern durchgeführt. Zur Neutralitätswahrung und Qualitätssicherung wurde wie bei REICHENBACH et al. (2021) eine externe Projektüberwachung durch TÜV Nord eingerichtet.
Nach Abzug von technischen Ausfällen liegen vollständige Daten von insgesamt 517 Tagen vor. Zusätzlich wurden als Referenz Flugwegedaten mittels Laser Rangefinder (LRF) an 72 Tagen aufgenommen. Die Rotmilanstudie von REICHENBACH et al. (2021) konnte im Vergleich dazu auf Daten von 365 IDF-Tagen und von 115 LRF-Tagen zurückgreifen. Die großen Datenmengen wurden skriptbasiert mit der Statistik-Programmiersprache R unter Zuhilfenahme der integrierten Entwicklungsumgebung RStudio bearbeitet, ausgewertet und visualisiert.
Um die Erfassungsreichweite von IDF zu ermitteln, wurde für jeden nachbestimmten ZielartTrack die Entfernung des ersten Detektionspunktes bestimmt. Für die Überprüfung der Erfassungsrate wurde der Referenzdatensatz des LRF hinsichtlich der Detektion der aufgezeichneten Flugwege durch IDF bewertet. Durch ein manuelles Nachbestimmen der von IDF gespeicherten Fotos und dem anschließenden Abgleich mit der jeweiligen automatischen Klassifizierung wurde die IDF-Klassifizierungsrate (Zielart versus Nicht-Zielart) ermittelt. Weiterhin wurden die Anzahl sowie die Dauer der Abschaltung für jede WEA am Untersuchungsstandort ermittelt. Basierend auf dieser Datengrundlage wurde sodann geprüft, ob für alle Flüge, die von IDF korrekt als Zielart klassifiziert wurden und sich der WEA bis auf Abschaltentfernung genähert hatten, planmäßig ein Abschaltsignal ausgelöst wurde. Weiterhin wurde überprüft, ob die Zeit zwischen obligatorischem Auslösen eines Abschaltsignals und Erreichen des Rotorbereichs ausreichend war, um eine potenzielle Kollision der Zielart mit dem Rotor der WEA zu verhindern.
Als Datengrundlage wurden an den vier Untersuchungsstandorten 295.310 Datenpunkte von IDF als „White-tailed-Eagle“ und 170.842 Datenpunkte als „Protected“ bzw. „Eagle“ klassifiziert (von insgesamt erfassten 1.890.050 Datenpunkten mit Foto (Zielart und Nicht-Zielart)). Die Auswertungen ergaben im Überblick folgende Ergebnisse:
- Erfassungsreichweite > 1.000 m (bis ca. 1.200 m),
- Erfassungsrate 87,2 %,
- Klassifizierungsrate 97,8 %,
- Erfolgsrate der Abschaltung im inneren Abstandszylinder in 98,9 % der Fälle mit mind. einem Bild einer Klassifizierung als Seeadler,
- Zeitdauer der Abschaltauslösung vor dem Erreichen der Rotorvolumenkugel in 99,4 % ausreichend.
- Auch die räumliche und zeitliche Abdeckung erreichen hohe Werte (bis 100 %).
An einem der vier Untersuchungsstandorte lagen auch Daten aus den Monaten November und Dezember 2021 und 2022 vor. Diese wurden separat hinsichtlich der Klassifizierungsrate ausgewertet, die in dem Zeitraum nur bei 81,9 % lag. Allerdings war die aufgezeichnete Flugaktivität von Seeadlern deutlich geringer als in den Sommermonaten. Bezogen auf das gesamte Jahr sank die Klassifizierungsleistung an diesem Standort in der Folge nur geringfügig auf 94,5 %.
IdentiFlight ist somit in der Lage eine hohe Schutzwirkung durch bedarfsgerechte Abschaltungen von WEA zu erzielen und somit das Kollisionsrisiko von Seeadlern bei Annäherung an WEA sehr weitgehend zu senken. Für den Einsatz von IDF zum Schutz des Seeadlers in der Praxis bedeutet dies, dass ein Einsatz insbesondere dort sinnvoll ist, wo WEA in einem häufig frequentierten Flugkorridor zwischen Brutplatz und Hauptnahrungsgebiet errichtet und betrieben werden sollen. Das System ermöglicht eine bedarfsgerechte Abschaltung im Gegensatz zu einer pauschalen bzw. phänologiebedingten Abschaltung. Dies ist vor allem beim Seeadler besonders vorteilhaft, weil auch in einem derartigen Flugkorridor nur mit wenigen Flugbewegungen pro Tag zu rechnen ist, sodass durch die bedarfsgerechte Abschaltung die Ertragseinbuße der WEA minimiert wird.
Die erzielten Ergebnisse entsprechen weitgehend denjenigen, wie sie für IDF bereits in Bezug auf den Rotmilan vorgelegt wurden und die zu einer fachlichen Anerkennung als wirksame Schutzmaßnahme in Abschnitt 2 der Anlage 1 zu § 45b Absatz 1-5 BNatSchG geführt haben.
Hieraus ergibt sich, dass IDF in Bezug auf den Seeadler in gleicher Weise wie für den Rotmilan die Anforderungen des KNE und BfN an die Wirksamkeit von Antikollisionssystemen (BRUNS et al. 2021) erfüllt. Dementsprechend kann davon ausgegangen werden, dass nunmehr die Voraussetzungen erfüllt sind, dass IdentiFlight als Schutzmaßnahme auch für den Seeadler fachlich und rechtlich anerkannt werden kann.